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Interview mit Diana Schaal über die Berliner Hinterhöfe im 19.Jahrhundert

10.03.2022

Lena Reich: Das Müll Museum Soldiner Kiez hat 2020 Hinterhöfe verschönert. Dabei ist immer wieder die Frage aufgekommen: Seit wann gibt es eigentlich den Anspruch, dass Hinterhöfe schön sein müssen?

Diana Schaal: Na, bei Zille jedenfalls nicht. Seine Zeichnungen und Karikaturen belegen eher, dass in den Hinterhöfen die arme Berliner Mischung lebte, sein Milljöh: Gören, Fabrikarbeiter, hart arbeitende und schwangere Frauen, Arbeitslose, Bettler, kleinkriminelle Ganoven und Prostituierte. In schwierigen Lebens- und Wohnverhältnissen ist nicht viel Platz für Gestaltung. Armut ist nicht schön.

Lena Reich: Ähnlich wie jetzt, strömten ab 1880 immer mehr arbeitssuchende Menschen nach Berlin und es gab einen immensen Zuzug. So entstanden ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Berliner Mietskasernen. Sie wurden vollständig im Block gebaut: Vorderhaus, Seitenflügel, Hinterhaus und dazwischen der Hof. Ziemlich eng?

Diana Schaal: Eine Abfolge von drei oder vier Hinterhöfen war keine Seltenheit. Die Höfe waren meist über Durchfahrten von der Straße aus erreichbar. Die unglaublich enge Bauweise dieser Wohnblöcke kam einer Kasernierung der Bewohnerinnen und Bewohner gleich. Einen kleinen Eindruck gibt auch die Prinzenallee 25-26 im Soldiner Kiez. Man geht durch zwei Hinterhöfe, bis man zum Medienhof Wedding kommt. Heute sind diese Hinterhöfe entkernt, so dass mehr Luft und Licht an die noch bestehenden Hinterhäuser und Seitenflügel kommt. Entsprechend sind die Hinterhöfe heute luftiger.

Lena Reich: Wie war denn die Berliner Mischung aufgeteilt?  

Diana Schaal: Im luxuriöser-ausgestatteten Vorderhaus lebten die Angehörigen der kleinbürgerlichen Mittelschicht wie Büroangestellte, kleine Beamte, Handwerksmeister oder gutverdienende Facharbeiter oder sogar Fabrikanten, die im Hinterhaus ihren Betrieb hatten. Ab 1859 wurden sie auch an das städtische Wasserversorgungsnetz angeschlossen, so dass zum Ende des 19. Jahrhunderts fast alle Vorderhäuser Wasseranschluss hatten. Die karg-ausgestatteten Hinterhäuser, in denen Arbeiter und die einfachen Handwerker wohnten, hatten jedoch kein fließendes Wasser. Die Verlegung der Wasserrohre war den Hausbesitzern einfach zu teuer. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Hinterhäuser mussten weiterhin zur Straßenpumpe gehen. Wer dann im 4. Hinterhof, 4. Stock wohnte, hatte Pech gehabt! In den Erdgeschossen der Hinterhäuser befanden sich oft Werkstätten und kleine Gewerbebetriebe.

Lena Reich: Wie sah es dann also im Hinterhof aus?

Diana Schaal: Zilles Zeichnung „Zirkus im Hinterhof“ zeigt genau, dass den Kindern der Hinterhof gehört, aber auch wie Nachbarn alles durch die Fenster beobachten konnten. Ein einziger Mülleiner steht im Hof. Und ein Klo, für alle! Während sich in den Vorderhäusern die Klos auf halber Treppe befanden, gab es für den Rest der zwei bis vier Hinterhäuser nur ein Außenklo auf dem Hinterhof! Wasser war schon immer ein Privileg.

Lena Reich: Wie grün waren denn die Höfe?

Diana Schaal: Der Hinterhof war kein Plätzchen lauschiger Natur, wie er das heute dank einer Begrünung oft ist. Da stand vielleicht mal ein Blumentopf auf der Fensterbank oder flog ein Schmetterling. Zille hat das dann auch gleich kommentiert. „Wollt ihr von de Blume weg! Spielt mit’n Müllkasten!“ mault da die Nachbarin den Kindern zu. Auch war der Kohlenkeller ja aktiv. Die Luft war alles andere als klar im Hinterhof. Und nochmals: auf Wohnqualität wurde hier keine Rücksicht genommen.

Lena Reich: Wir reich oder arm jemand ist, lässt sich immer noch am Wohnraum und seiner Einrichtung erkennen. Was für Zeichen des äußersten Prekariats können wir bei Zille noch sehen?

Diana Schaal: Da die Mieten sehr hoch waren, haben einige Arbeiterfamilien einzelne Betten in ihren Wohnungen an fremde Arbeiter vermietet, die sich keine eigene Wohnung leisten konnten und sonst obdachlos gewesen wären. Das waren die sogenannten Schlafburschen, die auch in dem Film „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ aufgenommen wurden. 

Lena Reich: …der proletarische Film, der in Zilles Todesjahr 1929 in die Kinos kam und auf seine Idee zurückging…

Diana Schaal: … und die basierte auf der Realität: meist lebten viele Menschen, die nichts miteinander zu tun hatten, in einer Wohnung, um sich die Miete leisten zu können. In dem Film geht es als um eine arme Arbeiterfamilie, die als Schlafburschen einen Ganoven mitsamt seiner Freundin, einer Prostituierten, bei sich wohnen hat. Nicht nur dass die Familie tragisch auseinandergerissen wird, geht die Mutter letztlich Selbstmord, indem sie den Gashahn aufdreht. Zille hat sich sehr intensiv mit der Figur des Schlafburschen auseinandergesetzt, der die Intimsphäre der stillenden Mutter und der badenden Tochter stört, und dessen Anwesenheit immer auch zu sexueller Gewalt führt…

Das vorliegende Interview zum Tag der Städtebauförderung am 8. Mai 2021 wurde gekürzt. Die vollständige Version ist in der Video-Datei auf www.schoenekiezmomente.de zu sehen.

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Lena ist Journalistin und Gründungsmitglied des Müll Museums. Sie schreibt, initiert und setzt sich leidenschaftlich für die Bildung von Kindern und Jugendlichen – nicht nur im Kiez – ein.